Sozialversicherungsträger sollten umgehend Kontrollgremien einrichten

16.12.2022 - Die von der Bundesregierung 2018 angekündigte "Patientenmilliarde" ist nicht darstellbar

Grundsätzlich beurteilt der Rechnungshof die Verbreiterung der Risikogemeinschaft und das Ziel, die Handlungsfähigkeit der Sozialversicherungsträger zu erhöhen und Synergien zu nutzen, positiv. Jedoch ist die von der Bundesregierung 2018 angekündigte „Patientenmilliarde“ bis 2023 nicht darstellbar. Im heute veröffentlichten Bericht „Reform der Sozialversicherungsträger“ zu den beiden Themen „Fusion“ und „Finanzielle Lage“ zeigen die Prüferinnen und Prüfer des Rechnungshofes auf, dass auch das Sozialministerium nicht begründen konnte, wie die angekündigten Einsparungen durch die Fusion der Sozialversicherungsträger hätten zustande kommen können. Es wäre allerdings die Aufgabe des Sozialministeriums gewesen, Maßnahmen zu entwickeln, um das politische Ziel zu erreichen oder das Ziel an fachliche Einschätzungen anzupassen.

Seit der Kassenfusion fehlen wichtige Kontrollgremien bei den Sozialversicherungsträgern und beim Dachverband. Hier sieht der Rechnungshof dringenden Handlungsbedarf. Und: Die angestrebte Harmonisierung der Versicherungsleistungen wurde nur teilweise umgesetzt. Ziele, etwa zur Frage, ob und wie viel eingespart werden soll, müssen klar festgelegt werden. Geprüft wurden die Jahre 2018 bis 2020 und das Jahr 2021 soweit wie möglich.

Mehraufwand zwischen 34,78 Millionen Euro und 134,10 Millionen Euro

Im Dezember 2018 beschloss der Gesetzgeber die 21 Sozialversicherungsträger auf fünf zu reduzieren. Die erklärten Ziele der Reform: Die Harmonisierung der Leistungen sowie den Verwaltungsaufwand zu senken. Konkret sollte der Personal- und Sachaufwand in der Verwaltung der Kassen um 30 Prozent verringert werden, um von 2020 bis Ende 2023 eine Milliarde Euro einzusparen. Diese sollte, so der Plan, durch erweiterte Leistungen den Anspruchsberechtigten zugutekommen.

Rechnerisch ergeben sich gegenüber dem Basisszenario ohne Fusion Mehrkosten von 214,95 Millionen Euro im Zeitraum 2020 bis 2023. Selbst unter der Annahme, dass die Kosten für den Verwaltungsaufwand auch ohne die Fusion gestiegen wären – etwa inflationsbedingt – und wenn nur die von der Fusion tatsächlich betroffenen Sozialversicherungsträger sowie der Dachverband berücksichtigt werden, lässt sich die im September 2018 von der Bundesregierung angekündigte Patientenmilliarde bis 2023 nicht darstellen. Im Gegenteil: Auch in diesem Fall errechneten die Prüferinnen und Prüfer einen Mehraufwand in der Bandbreite von 34,78 Millionen Euro und 134,10 Millionen Euro.

Der Rechnungshof kritisiert, dass das Sozialministerium nicht begründen konnte, wie es zur Annahme kam, bis zum Jahr 2023 eine Milliarde Euro einzusparen. Bereits vor Beschluss des entsprechenden Gesetzes, dem Sozialversicherungs-Organisationsgesetz, kritisierten verschiedene Stellen, so auch der Rechnungshof, dass die errechneten Einsparungen nicht schlüssig waren. Wenn politische Ziele und fachliche Einschätzung voneinander abweichen, wäre es Aufgabe des Sozialministeriums, entweder andere Maßnahmen zu entwickeln oder die Ziele anzupassen. Die Sozialversicherungsträger selbst setzten sich im geprüften Zeitraum im Rahmen der Fusion keine quantifizierbaren Einsparungsziele. Im Gesetz fehlten auch entsprechende Vorgaben. 

Neue, realistische Ziele festlegen

Angesichts der Kluft zwischen der tatsächlichen Entwicklung des Verwaltungsaufwands und den Prognosen gemäß Sozialversicherungs-Organisationsgesetz „wären gemeinsam mit dem Dachverband der Sozialversicherungsträger neue, realistische Ziele festzulegen und Maßnahmen zu setzen, um die Erreichung der Zielsetzungen sicherzustellen“, so die Empfehlung der Prüferinnen und Prüfer. Außerdem stellt sich die Frage, welches Gewicht die Reduktion des Verwaltungsaufwands in Anbetracht neuer Anforderungen an die Träger haben sollte. Konkrete Ziele zu allfälligen Einsparungen sowie eine nachvollziehbare Erfassung von Kosten und Nutzen wären zweckmäßig.

Harmonisierung der Leistungen nicht vollständig umgesetzt

Ein wesentliches Bestreben der Reform war, die Krankenversicherungsleistungen innerhalb der neuen Sozialversicherungsträger zu harmonisieren. Doch: Die Unterschiede zwischen den Berufsständen, also zwischen den Sozialversicherungsträgern, wurden nicht verringert.
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) setzte zwar Schritte zur Leistungsharmonisierung, ein bundeseinheitlicher Gesamtvertrag im ärztlichen Bereich ist jedoch nicht absehbar. Der Gesetzgeber hat zwar die Struktur der Sozialversicherungsträger reformiert, die Zuständigkeit der Landesärztekammern als Verhandlungspartner für Honorarvereinbarungen jedoch unverändert gelassen. Der Rechnungshof sieht darin eine Ursache für die fehlende Vereinheitlichung. Gelingt weiterhin keine Einigung, empfiehlt er, die gesetzlichen Rahmenbedingungen umzugestalten, also eine Regelung der Verhandlungs- und Vertragspartner auf Ärzte- und ÖGK-Seite, in Erwägung zu ziehen.

Strengere Kontrolle für Sozialversicherungsträger

ehrkosten von 214,95 Millionen Euro  - Copyright: Foto: SVC / Wilke

Vor der Reform war für jeden Sozialversicherungsträger eine Kontrollversammlung vorgesehen, die die gesamte Gebarung laufend zu überwachen hatte. Jedoch: Das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz sah – trotz des hohen Gebarungsvolumens der Sozialversicherungsträger von rund 69,358 Milliarden Euro im Jahr 2020 – weder eine Kontrollversammlung noch ein anderes Kontrollgremium für Sozialversicherungsträger vor. Damit war die Kontrollstruktur der Sozialversicherung im Vergleich zu ihrer Organisation vor der Fusion und zu ähnlich großen öffentlichen oder privaten Gesellschaften erheblich geringer ausgebildet.

Der Rechnungshof empfiehlt dem Sozialministerium, auf eine gesetzliche Regelung zur verpflichtenden Einrichtung eines Kontrollgremiums für die Sozialversicherungsträger und den Dachverband und zur direkten Kommunikation zwischen Aufsichtsorganen und Wirtschaftsprüfern etwa nach dem Modell der Bankenaufsicht hinzuwirken. Und die Empfehlung des Sozialministeriums, einen Prüfungsausschuss der Hauptversammlung einzurichten, wäre umgehend umzusetzen.

Teurer Beratervertrag ohne Preisvergleich

Das Sozialministerium beauftragte um rund 90.500 Euro eine Rechtsanwaltskanzlei mit der Durchführung eines Vergabeverfahrens von Beratungsleistungen für drei Sozialversicherungsträger. Die inhaltlichen Gespräche für die Auftragsvergabe führte – gemäß den verfügbaren Unterlagen – das Kabinett der damaligen Sozialministerin. Die Fachabteilungen im Ministerium waren weder involviert, noch über Details informiert. Das größte Honorarvolumen für die Organisationsberatung hatte mit 10,60 Millionen Euro für die Jahre 2019 und 2020 die ÖGK. Der durchschnittliche Stundensatz des Beratungsunternehmens war um 80 Prozent höher als der Stundensatz des Unternehmens mit dem zweithöchsten Honorarvolumen, das für die Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen tätig wurde. Nach Ausscheiden eines Bewerbers verblieb nur ein Anbieter. Die Rahmenvereinbarung für die Beratungsleistungen der ÖGK schloss das Sozialministerium ohne Bewertung der Konzepte und ohne Preisvergleich. Der Rechnungshof kritisiert die lückenhafte Dokumentation der Vergabe. Laut Sozialministerium wurden Akten des Kabinetts dem Österreichischen Staatsarchiv übergeben. Diese wurden für 25 Jahre als „Privatakten“ versiegelt. Ein danach vom Rechtsanwalt an das Sozialministerium übermittelter Datenträger war im Zuge der Prüfung durch den Rechnungshof nicht mehr auffindbar. Der Rechnungshof warnt vor einer Abhängigkeit, wenn dauerhaft und intensiv externe Beratungsleistungen in Anspruch genommen werden.

Personalbesetzungen nicht ausreichend dokumentiert

Auch bei den Besetzungsvorgängen der obersten Führungsebene gibt es Verbesserungspotenzial. So schrieb die ÖGK drei Führungspositionen aus, ohne im Ausschreibungstext Rücksicht darauf zu nehmen, ob zum Beispiel eine Führungskraft für den IT-Bereich, den Finanzbereich, Vertragspartnerverhandlungen oder für die Organisation Eigener Einrichtungen gesucht wurde. Dem Rechnungshof vorgelegte Unterlagen der ÖGK beziehungsweise des Dachverbands enthielten auch Beurteilungen von Eigenschaften – etwa Resilienz, Durchsetzungsfähigkeit, regionale Komponente –, die nicht explizit in der Ausschreibung gefordert waren. Die verfügbaren Unterlagen über das Besetzungsverfahren waren in der ÖGK und im Dachverband nicht ausreichend, um die Entscheidungsgrundlagen im Einzelnen nachzuvollziehen.

Privatstiftungen statt an die Solidargemeinschaft

Im Rahmen der Strukturreform wurden vier Betriebskrankenkassen (Mondi, voestalpine Bahnsystem, Zeltweg und Kapfenberg) aufgelöst. Deren Anspruchsberechtigte wurden an die ÖGK übertragen. Zur betrieblichen Gesundheitsförderung und um das Leistungsniveau aufrecht zu halten, wurden vier Privatstiftungen gegründet. An sie wurden aus dem Vermögen der ehemaligen Betriebskrankenkassen rund 70 Millionen Euro übertragen. An die ÖGK gingen neun Millionen Euro. Der Rechnungshof weist kritisch darauf hin, dass – im Unterschied zu vergangenen Auflösungen von Betriebskassen – ein wesentlich höherer Anteil ihres Vermögens nicht an die neue Solidargemeinschaft, in diesem Fall die ÖGK, überging.


Presseinformation: Reform der Sozialversicherungsträger – Fusion – Finanzielle Lage

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Umfang: 
188 Seiten

Bericht: Reform der Sozialversicherungsträger – Fusion – Finanzielle Lage

Der Rechnungshof überprüfte von September 2021 bis Februar 2022 die Fusion der Sozialversicherungsträger. Prüfungsziel war im ersten Teil (Reihe Bund 2022/41) die Beurteilung der angestrebten Reduktion des Verwaltungsaufwands, der Fortschritte zur Harmonisierung von Leistungen und der organisatorischen Integration.

Im zweiten Teil (Reihe Bund 2022/42) beurteilte der RH zudem die finanzielle Lage der drei fusionierten Sozialversicherungsträger unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID–19–Pandemie. Der überprüfte Zeitraum umfasste die Jahre 2018 bis 2020, wobei der RH auch das Jahr 2021 soweit als möglich berücksichtigte.

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